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Aktualisiert am 22. März 2022

Long Covid hat allein in der Schweiz bisher Zehntausende aus ihrem Leben gerissen. Gemäss einer Kohortenstudie aus dem Kanton Zürich sind von Langzeitfolgen rund ein Viertel aller mit Corona Infizierten betroffen. 18 von 100 Personen sind sechs Monate nach einer Ansteckung noch leicht beeinträchtigt, 4 von 100 mittelschwer und 3 von 100 sehr stark. Ob eine Infektion mit der Omikron-Variante seltener zu Long Covid führen wird, werden wir erst im Verlauf der nächsten Monaten sehen.

Wie geht eine leistungsorientierte Gesellschaft mit Menschen um, welche die Leistung nicht mehr erbringen können? Dokumentar-Fotograf Andreas Seibert geht dieser Frage nach und porträtiert als Zeitdokument Long-Covid-Erkrankte im ganzen Land. Die Fotoserie, welche dereinst in einem Buchprojekt mit 80 Porträts münden soll, soll kein Mitleid erregen, sondern Verständnis für die Situation der Betroffenen schaffen. Seibert verfasste neben den Fotografien auch Texte zu allen Personen.

Am Ende des Beitrags finden Sie ein Interview mit dem Fotografen.

Manuela Bieri (41), Bern
diplomierte Intensivpflegefachfrau
Foto: Andreas Seibert/Pro Litteris
«Wir sterben nicht, wir müssen nicht ins Spital, wir sind für niemanden wirklich interessant.»

Manuela Bieri war vor ihrer Corona-Infektion mehrmals mit dem Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) und dem IKRK in Krisengebieten unterwegs. In einem Feldspital eines riesigen Lagers nahe der Stadt Cox's Bazar in Bangladesh hat sie sich um Flüchtlinge aus Burma gekümmert. Sieben Tage die Woche hat Bieri alte Schussverletzungen und Traumata versorgt.

In der zweiten Corona-Welle arbeitet Bieri als diplomierte Intensivpflegefachfrau im Spital und steckt sich wahrscheinlich dort mit Sars-CoV-2 an. Der Verlauf ihrer Corona-Infektion, die sie zu Hause durchmacht, ist mild. Nachdem sie sich erholt hat, beginnt Bieri wieder mit ihrer Arbeit. Wochen später beginnen ihre Long-Covid-Symptome, und sie wird zu 90 Prozent krankgeschrieben.

Anfänglich hat Bieri Lungenprobleme, nun jedoch vor allem neurologische Störungen. Durch die kognitiven Einschränkungen ist sie vergesslich geworden und muss sich alles aufschreiben. Teilweise erkennt Bieri Bekannte nicht mehr. Konzentriert an einem Gespräch teilnehmen kann sie höchstens für eine Stunde. Sport zu treiben, ist ihr nicht mehr möglich. Maximal liegt ein Spaziergang von einer Stunde drin.

Wenn sie ihre stark verminderte Leistungsgrenze überschreitet, leidet sie kurze Zeit später an Symptomen wie Fieber, Husten, Hals- und Gliederschmerzen und starkem Schwindel. Da sie hin und wieder etwas mit Freunden und mit ihrer Familie unternehmen will, nimmt sie diese Symptome gelegentlich in Kauf.

«Wir sind für niemanden wirklich interessant, denn wir sterben nicht und müssen auch nicht stationär im Spital gepflegt werden», sagt Bieri. Die Betroffenen sind in der Gesellschaft kaum sichtbar, denn sie meiden Menschenmengen und ziehen sich zurück, die Krankheit sieht man ihnen zudem auf den ersten Blick auch nicht an.

Bieri hofft, dass die Schweizer Politik und die Medizin sich des Themas Long Covid ambitionierter annehmen werden. Aufgrund des komplexen Krankheitsbildes fühle sich bis jetzt niemand wirklich zuständig für sie; und wegen der fehlenden Sichtbarkeit würden Long-Covid-Betroffene oft vergessen.

Bruno Bucher (65), Biel
pensionierter Professor für Wirtschaft
Foto: Andreas Seibert/Pro Litteris
«Ich hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden und einen Gedanken zu Ende zu denken.»

Am 28. Oktober 2020 schreibt Bruno Bucher auf seiner Facebook-Seite: «Es wird jetzt ungemütlich. Meine Frau pflegte unwissentlich zwei Covid-Infizierte, die sich das Virus offenbar im Spital geholt haben.» Kurz darauf wird sie positiv auf Covid-19 getestet, am 5. November dann auch Bruno Bucher selber, der an einer Vorerkrankung leidet.

Da sich der Zustand seiner Frau innerhalb von Stunden dramatisch verschlechtert, wird sie ins Spital verlegt. Auch Bucher fühlt sich mit jeder Stunde schlechter. Eines Morgens kann er sich kaum noch auf den Beinen halten. Er ruft die Ambulanz und wird in das Krankenzimmer seiner Frau gebracht. Innerhalb eines Tages hat sie sich so stark verändert, dass er sie zuerst kaum wiedererkennt. Sie erholt sich aber und kann nach einiger Zeit entlassen werden.

Buchers Zustand jedoch verschlechtert sich, er bekommt zeitweise kaum noch Luft.

Innerhalb der drei Wochen, die Bucher im Spital verbringt, verliert er 12 Kilogramm Körpergewicht. Danach beginnt ein vierwöchiger Aufenthalt in der Schweizer Rehaklinik Heiligenschwendi.

Die Corona-Infektion führt bei Bucher zu Haarausfall und Geschmacksstörungen: Alles, was er essen oder trinken will, riecht und schmeckt scheusslich.

Auch Buchers Denkkapazität und sein Erinnerungsvermögen haben durch die Infektion gelitten: Ab und an hat er Mühe, die richtigen Worte zu finden, einen Gedanken zu Ende zu denken. Als Kopfmensch fällt es ihm schwer, diese Veränderungen zu akzeptieren. Neulich sei er vor seinem Computer eingeschlafen, das sei ihm früher nie passiert.

Bucher bedauert, dass es in der Schweiz zu Long Covid keine adäquate Forschung gebe und keine Massnahmen, die den Betroffenen helfen würden. «Als Gesellschaft hat die Schweiz in der Corona-Pandemie versagt.»

Chantal Britt (53), Bern
Kommunikationsfachfrau
Foto: Andreas Seibert/Pro Litteris
«Diese unsichtbare Erkrankung stellt seit zwei Jahren mein Leben auf den Kopf und macht meinen Körper kaputt.»

Chantal Britt, dreifache Mutter, war so gut wie nie krankgeschrieben, hat nie bei der Arbeit gefehlt. Sie war fit und sportlich, sie spielte Tennis und Squash, fuhr Ski und lief Marathon.

Bei einem Konzert im Februar 2020 mit 200 Jugendlichen und 500 Zuschauern, alle ohne Masken, infiziert sich Britt mit Sars-CoV-2. Ihr Krankheitsverlauf ist mild, sie spürt ein Kratzen im Hals, und sie hüstelt, ansonsten zeigt sie keine weiteren Anzeichen einer Erkrankung. Erst Mitte März kommen schwerere Symptome wie Kurzatmigkeit, Atemnot bei Belastung, Schmerzen im Brustkorb und Herzrasen hinzu.

Ein PCR-Test Anfang April ist negativ, ebenfalls ein Antikörpertest. Auch Ende September sind ihre Symptome nicht verschwunden. Ihr Pneumologe spricht von Psychosomatik, und Britt gründet mit weiteren Long-Covid-Betroffenen die Facebook-Gruppe «Long Covid Schweiz».

Im März 2021, ein Jahr nach ihrer Covid-19-Erkrankung, sind Britts Hauptsymptome noch immer präsent, vermehrt treten nun auch Fatigue und kognitive Defizite auf. Im Juni wird die Diagnose «Post-Covid-Syndrom mit Fatigue» gestellt. «Nach meinen ruhelosen Nächten, die keine Erholung bringen, habe ich Mühe aufzustehen. Ich fühle mich leer und wie verkatert, ohne den unterhaltsamen Teil am Abend davor», schildert Britt ihre Symptome. «Ich habe Mühe, Bücher zu lesen, weil ich alles gleich wieder vergesse. Ich traue mich nicht mehr, Auto zu fahren, weil ich mich nicht konzentrieren kann.»

Heute, zwei Jahre nach ihrer Erkrankung, sind die Symptome unverändert spürbar. Sie leidet an Belastungsintoleranz, an Brain Fog, Fatigue, an Kurzatmigkeit, und sie erlebt eine generelle Lethargie und grosse Antriebslosigkeit.

«Diese unsichtbare Erkrankung, die mein Leben so lange auf den Kopf stellt und meinen Körper kaputt macht, hat mich über 10 Jahre altern lassen. Jeder Tag ist ein Kampf», sagt Britt. «Ich wünsche diese Krankheit meinem ärgsten Feind nicht.»

Mirjam Lüscher (46), Basel
Mitarbeiterin einer schulischen Tagesstruktur
Foto: Andreas Seibert/Pro Litteris
«Das Leben ist wie ein Zug. Ich aber stehe am Bahnhof und schaue zu, wie dieser an mir vorbeifährt.»

Durch das Stubenfenster sind Flugzeuge am stahlblauen Himmel zu sehen. Scheinbar mühelos gewinnen sie nach dem Start an Höhe. Dann drehen sie nach Westen ab und sind kurz darauf nur noch als kleine schwarze Punkte zu erkennen. Neulich erst wollte Mirjam Lüscher eines der Fenster reinigen. Nach wenigen Minuten begann ihr Herz zu rasen, und sie musste aufhören.

Vor ihrer Coronainfektion Anfang Oktober 2020 ist Lüscher gesund und sportlich. Am 7. Oktober bekommt sie Fieber und bleibt gut drei Wochen in Selbstisolation zu Hause – trotz Atemnot. Auch nach der akuten Infektionsphase fühlt sie sich nicht gesund. Da ihr Hausarzt nicht glaubt, dass es Long Covid gibt, und sie nicht krankschreiben will, sucht sich Lüscher einen neuen Mediziner, der sie betreut. Die Arbeit beginnt sie mit reduziertem Pensum und mithilfe von Asthma- und Schmerzmedikamenten. Kurz darauf verschlechtert sich ihr Zustand, und sie muss ihre Weiterbildung unterbrechen.

Nach der Impfung im Sommer 2021 verbessert sich Lüschers Zustand ein wenig, doch dieses Hoch ist nur von kurzer Dauer. Nach etwa zwei Wochen kehren die meisten Symptome zurück. Lüscher besucht heute eine Long-Covid-Sprechstunde mit ambulanten Therapien. Da sie zu hundert Prozent arbeitsunfähig ist, wird ihr in der Sprechstunde empfohlen, sich bei der IV anzumelden. Doch sie wäre lieber weiterhin berufstätig.

In ihrem Freundeskreis nimmt das Verständnis für ihre Situation unterdessen ab: Sie solle mehr Sport machen und früher ins Bett gehen; jeder sei mal müde; sie solle sich nicht dauernd mit Long Covid beschäftigen, das tue natürlich nicht gut. Sie würde gerne ihre Arbeit wiederaufnehmen und mit ihrer Weiterbildung fortfahren; würde gerne wieder Sport treiben, Feste besuchen und Freundinnen treffen. Aber sie kann nicht. Ihr Leben mit Long Covid, sagt sie, sei wie ein Zug, in dem sie nicht sitze. Sie stehe am Bahnhof und sehe zu, wie der Zug an ihr vorbeiziehe.

Lara Karcher (31), Muttenz BL
Online Campaign and Content Manager
Foto: Andreas Seibert/Pro Litteris
«Eines Morgens bin ich mit einer schwarzen Zunge aufgewacht.»

Ende 2019 reist eine Arbeitskollegin von Lara Karcher für vier Wochen nach China. Als sie zurück in der Firma ist, werden mehrere ihrer Kollegen und Kolleginnen krank, einige von ihnen entwickeln Lungenentzündungen. Auch Karcher erkrankt. Nach ihrer Coronainfektion entwickelt sie ganz unterschiedliche Symptome: Sie leidet unter Geschmacksverlust, hat Husten, Hautprobleme, Zuckungen und Haarausfall. Von den Ärzten, die sie aufsucht, fühlt sie sich nicht ernst genommen. Als sie eines Morgens mit einer schwarzen Zunge aufgewacht sei, habe ihr Arzt am Telefon gefragt, ob sie Blaubeeren gegessen habe.

Ihre Fingernägel, die ihr zuvor bei einer gewissen Länge oft abbrachen, werden steinhart, es kommt ihr vor, als würden ihr Klauen wachsen. Karcher versteht ihren Körper nicht mehr.

Bis jetzt hat sie keine Therapie gegen ihre Symptome gefunden. Eine Ärztin empfahl ihr eine psychiatrische Behandlung. Da sie sich so früh infiziert hat, konnte man bei einem Test Mitte 2020 keine Antikörper nachweisen. Unterdessen hat sie aber die Bestätigung, dass sie von Long Covid betroffen ist.

Patrizia Lang (32), Eschlikon TG
vierfache Mutter
Foto: Andreas Seibert/Pro Litteris
«Wir mussten die Hälfte unseres Einkommens für die Kinderbetreuung ausgeben.»

Anfang 2020 scheint Patrizia Langs Glück perfekt. Die Familie zieht in ein schönes Haus in Eschlikon im Thurgau, und am 15. März kommt ihr viertes Kind zur Welt. Am 6. November erkrankt Patrizia Lang jedoch an Covid. Sie hat Fieber, für sie neuartige Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und Atembeschwerden. Dazu kommen Schwindel und das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Eine Ambulanz bringt sie ins Spital.

Neurologisch scheint sie gesund zu sein und wird wieder entlassen. Ihr Mann, ebenfalls an Covid erkrankt, erholt sich. Auch ihr Zustand verbessert sich, aber nur für kurze Zeit. Nun leidet sie unter Taubheitsgefühlen in Armen und Beinen, Muskelschwäche, unsicherem Gang, Durchfall, Übelkeit, Druck im Kopf, Ausschlägen, Haarausfall. Im neuen Jahr geht es ihr zusehends schlechter. Es kommen Sehstörungen hinzu, Geruchshalluzinationen und Atemnot bei der kleinsten Anstrengung. Beim Gehen hat sie das Gefühl, Kisten vor sich herzuschieben. Beim Gang zur Toilette rast ihr Herz wie bei einem Marathon.

Lang kann ihre vier Kinder nicht mehr selber betreuen und sucht Hilfe beim Roten Kreuz. Als sie erneut kollabiert, wird sie ein weiteres Mal ins Krankenhaus gebracht. Mit der dortigen Behandlung ist sie nicht zufrieden. Erst als sie ins Universitätsspital Zürich verlegt wird, erhält sie die Diagnose Long Covid. Es folgen mehrere Wochen Rehabilitation in Liechtenstein. In dieser Zeit verpasst sie den dritten und den fünften Geburtstag ihrer Söhne, den jüngsten hat sie in der Reha und im Krankenhaus bei sich. Seinen ersten Geburtstag muss Lang mit ihm alleine feiern, ohne ihre Familie. Als sie wieder zu Hause ist, fühlt sie sich alleine gelassen, denn sie ist immer noch krank, erhält keine staatliche Unterstützung, keine Therapie und keine Medikamente, die wirklich helfen.

Nach der zweiten Moderna-Impfung bekommt sie Sehstörungen. Im Universitätsspital Zürich lautet der Verdacht auf das Visual-Snow-Syndrom. Derzeit ist sie deshalb im Inselspital Bern in Behandlung. Nie hätte sie gedacht, dass sie so lange krank sein würde. Ihr Baby, sagt Lang, habe viel Farbe in ihre schwierige Situation gebracht. In der Reha habe der Junge laufen gelernt und ihr täglich gezeigt, wie man nach dem Hinfallen wieder aufstehe.

Geneviève Morin (59), Basel und Hégenheim
bildende Künstlerin
Foto: Andreas Seibert/Pro Litteris
«Die Erkrankung löste bei mir manisch-depressive Phasen aus.»

Der Husten beginnt Mitte März 2021. Kurz darauf setzt heftiges Fieber ein. Geneviève Morin begibt sich zu Hause in Selbstisolation. In der Nacht vom 23. März hat sie einen schrecklichen Albtraum: Mit wahnsinnigem Tempo dreht sich eine Art CD in ihrem Kopf. Immer an der gleichen Stelle wird sie plötzlich gestoppt. Im Traum erkrankt sie an Alzheimer und versucht immer wieder, klare Gedanken zu fassen, ist aber dazu nicht in der Lage. Völlig erschöpft wacht sie auf und meint, sie sei tatsächlich an Alzheimer erkrankt. Aus Angst vor diesem Traum will sie nicht mehr schlafen, meidet ihr Bett und liegt auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. Am frühen Morgen des 26. März beginnt ihr Herz unregelmässig zu schlagen. Morin ist überzeugt, dass sie nicht an Corona, sondern an einem Herzschlag sterben wird, und ruft ihre Ärztin an.

Kurz darauf steht ein Notfallteam in Schutzkleidung vor ihrer Tür, und Morin wird mit einer Lungenentzündung notfallmässig ins Krankenhaus gebracht. Dort bleibt sie bis Ende März.

Dann entwickelt sie eine manische Phase, in der sie drei Tage lang ohne Unterbruch telefoniert. Sie geht davon aus, dass ihre Coronainfektion die manisch-depressiven Phasen, an denen sie vor 29 Jahren bereits litt, die sie aber unter Kontrolle hatte, erneut ausgelöst hat.

Den April verbringt sie in einem Haus im Basler Jura, um sich zu erholen. Dann setzen depressive Phasen ein, die so schlimm werden, dass sie in der Psychiatrischen Klinik der Universität Basel Hilfe sucht. Dort verbringt sie den ganzen Juli. Im August folgt ein Aufenthalt in der Klinik Sonnenhalde in Riehen. Der behandelnde Arzt stellt die Diagnose Long Covid und bestätigt Morins Vermutung, dass die Erkrankung bei ihr erneut manisch-depressive Phasen ausgelöst hat.

Danach beginnt Morin langsam wieder mit ihrer künstlerischen Arbeit. Da ihre Werke sehr persönlich sind, geht sie davon aus, dass ihre Erlebnisse während und nach ihrer Covid-Erkrankung immer wieder in ihre Kunst einfliessen werden.

Sina Kuhn (40), Zürich
Senior Consultant
Foto: Andreas Seibert/Pro Litteris
«Mittlerweile sind kleine Ausflüge möglich, wenn ich mich danach erholen kann.»

Sina Kuhn erkrankt im September 2020 mittelschwer an Covid. Die Krankheit dauert rund drei Wochen und fühlt sich wie eine schwere Grippe an. In dieser Zeit ist sie alleine zu Hause in Isolation. Als sie sich besser fühlt, fährt sie nach Baden, um ihren Partner zu besuchen. Sie bekommt aber kaum Luft und schafft es nur knapp bis zu seiner Haustür. Der behandelnde Pneumologe meint, ihre Atemnot sei psychisch bedingt, sie solle sich beruhigen.

Vor ihrer Coronainfektion war Kuhn gesund. Sie achtete auf ihren Körper, praktizierte jeden Tag Yoga, tanzte Salsa, trieb viel Sport, ging wandern. Heute kann sie ihren Körper nicht mehr richtig einschätzen. Sobald sie über ihre Leistungsgrenze hinausgeht – die viel tiefer ist als vor der Infektion –, erlebt sie einen «Crash». Dann muss sie sich hinlegen, möglichst alles ausblenden, vor allem Licht und Geräusche. Bis sie sich erholt hat, braucht sie etwa zwei Tage.

Nach ihrer ersten Coronaimpfung im Juni 2021 verschlechtern sich Kuhns Symptome enorm. Seither ist sie relativ stark von Long Covid betroffen. Auch nach der zweiten Impfung bleiben die Symptome mit den typischen Schwankungen bestehen.

Im Sommer 2021 gönnen sich Kuhn und ihr Partner eine Ayurvedakur. Danach fühlt sie sich fast so gut wie vor ihrer Erkrankung. Sie fahren ans Meer, doch als Kuhn ins Wasser watet, erleidet sie einen weiteren Crash – für ihren Körper ist der Unterschied zwischen Wasser- und Körpertemperatur zu gross.

Heute geht es Kuhn nicht besser, aber sie hat ihren Zustand akzeptiert und gelernt, mit ihm umzugehen. So sind kleine Ausflüge oder Restaurantbesuche möglich – wenn sie sich gut vorbereitet und danach erholen kann.

Christian Salzmann (52), Vordemwald AG
Journalist und Radiomoderator
Foto: Andreas Seibert/Pro Litteris
«Ich wusste nicht, ob ich meine Partnerin nochmals wiedersehen werde.»

Es ist Oktober 2020, die zweite Coronawelle rollt durch die Schweiz. Christian Salzmann und seine Partnerin verabreden, dass sie sich gegenseitig keine Vorwürfe machen werden, sollte jemand von beiden das Virus nach Hause bringen. Dann erkrankt Salzmanns Partnerin, eine Pflegefachfrau, wenig später auch er. Beide begeben sich in Isolation und durchleben die Coronainfektion alleine.

Nach einigen Tagen ruft Salzmanns Partnerin an und sagt, sie bekomme keine Luft mehr. Seine Angst ist gross, und da sich auch sein Zustand jetzt schnell verschlechtert, weiss er nicht, ob sie sich nochmals wiedersehen werden. Unter grosser Anstrengung und mit der Hilfe eines befreundeten Notars setzt er sein Testament auf. Glücklicherweise erholen sich beide und können ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Vier Wochen später, Salzmann hat soeben eine Radiosendung hinter sich, kommt die Krankheit zurück: Plötzlich hat er keine Energie mehr. Er bricht fast zusammen, kann sich gerade noch an seinem Sendepult festhalten. Auch seiner Partnerin geht es wieder schlechter. Seit Dezember 2020 leiden beide an Long Covid. Salzmann leidet an Atemnot, chronischer Erschöpfung, wandernden Gliederschmerzen, Konzentrationsproblemen, Empfindungsstörungen in Armen und Beinen und Schlafstörungen. Immer wieder riecht für ihn einige Tage lang alles nach Autoabgasen. Hektik und Stress verträgt er nur noch schlecht. Die massive Depression, in die Salzmann kurz nach Beginn der Long-Covid-Erkrankung gestürzt ist, hat inzwischen nachgelassen. Allerdings kommen immer wieder depressive Verstimmungen zurück.

Salzmann begibt sich für neun Wochen in Rehabilitation. Während es ihm langsam etwas besser geht, verschlechtert sich der Zustand seiner Partnerin erneut.

Heute muss er sich entscheiden, ob er einkaufen geht oder einen Spaziergang macht; für beides reicht seine Energie nicht. Nicht zu wissen, wie lange er von Long Covid betroffen sein wird, macht ihm Angst. Hoffnung geben ihm verständnisvolle Menschen in seinem Umfeld, sein Glaube und die Erforschung neuer Medikamente gegen Long Covid.

Wenn Salzmann wieder gesund ist, so hat er sich vorgenommen, wird er vieles nicht mehr so ernst und nicht so persönlich nehmen wie vor seiner Coronainfektion. Und er will für Menschen da sein, die Hilfe brauchen – so wie er jetzt.

Andreas Seibert ist Fotograf und war Mitglied der Agentur Lookat. Er hat sechzehn Jahre in Japan gelebt. Seit Beginn des Jahrtausends dokumentiert er fotografisch den chinesischen Wirtschaftsboom. Long-Covid-Betroffene fotografiert er seit dem Sommer 2021. Mehr Informationen auf andreasseibert.com1 Element/Icon/14/External_Story Link_narrow@1.5x.

«Es braucht Mut, die eigene Versehrtheit zu zeigen»

Woher kommt Ihr Interesse an Long Covid?

Ab Sommer 2021, als viele Menschen die Hoffnung hatten, die Pandemie gehe ihrem Ende entgegen, ich übrigens auch, las ich zunehmend Meldungen und Studien, die darauf hindeuteten, dass ein beträchtlicher Anteil der Corona-Infizierten Long-Covid-Symptome entwickeln. An den Pressekonferenzen des Bundes allerdings war Long Covid kaum ein Thema. Das hat mich sehr irritiert und veranlasst, diesem Thema selber nachzuforschen. Nach ersten Telefongesprächen mit Long-Covid-Betroffenen wurde mir klar, dass sie keine Stimme haben, dass sie von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden und dass ihr Leidensdruck sehr hoch ist. All dies hat mich dazu bewogen, mit der fotografischen Arbeit an dieser Serie zu beginnen.

Was haben Sie für Personen angetroffen?

Ich habe Personen kennen gelernt, die mir mit grosser Offenheit von ihrer akuten Corona-Infektion erzählten, vom Beginn ihrer Long-Covid-Erkrankung, von den fehlenden Therapien und ihren Reha-Aufenthalten. Sie haben von ihren Ängsten und Hoffnungen gesprochen und von ihren Enttäuschungen, die sie durch Begegnungen mit Ärzten, aber auch durch Erfahrungen im Freundeskreis erlebt haben. All dies ganz ohne Selbstmitleid oder Larmoyanz. Ich weiss nicht, ob ich selber diese Grösse hätte. Ich habe auch Menschen getroffen, die durch Long Covid ihr früheres Leben verloren haben und nicht wissen, wann oder gar ob sie dieses jemals wieder zurückerhalten werden. Kurz, ich habe sehr starke Personen angetroffen.

Was hat Sie bei den Begegnungen mit Betroffenen am tiefsten beeindruckt?

Am meisten wohl die Bereitschaft der Long-Covid-Betroffenen, mir und meiner Kamera zu vertrauen. Wenn wir fotografiert werden, wollen wir uns von unserer besten Seite zeigen, das ist verständlich. Bei dieser Arbeit hingegen war ich darauf angewiesen, dass die Betroffenen ihre eigene Verletzlichkeit nicht verstecken. Es braucht oft nicht viel, um diese sichtbar zu machen, ein neuer Blick, eine andere Körperspannung oder -haltung kann ausreichen, um einen Menschen ganz und gar anders wahrzunehmen. Aber es braucht Mut, die eigene Versehrtheit sichtbar zu machen und diese sodann auf dem Bild auszuhalten und zu akzeptieren. Und es braucht sehr viel Mut, sie einer Öffentlichkeit zu zeigen. Für diese Bereitschaft möchte ich mich nochmals bei allen Beteiligten herzlich bedanken.

Wie fotografiert man eine Krankheit, die zu grossen Teilen unsichtbar ist?

Als ich die ersten Long-Covid-Betroffenen kontaktiert habe, wurde ich oft gefragt: «Herr Seibert, wie wollen Sie Long Covid fotografieren, man sieht mir die Krankheit ja nicht an?» Meine Antwort war immer: «Ich weiss es nicht. Ich weiss nicht, ob man Long Covid fotografieren kann. Aber wenn man es kann, dann werden wir es gemeinsam herausfinden.»

Was haben Sie herausgefunden?

Es ist in der Tat so, dass man den Betroffenen ihre Krankheitssymptome oft nicht ansieht. Als Fotograf, der das Medium immer auch dokumentarisch einsetzt, hat mich hier die Frage interessiert, ob ich etwas, das nicht wirklich sichtbar ist, visuell trotzdem einfangen kann. Meine Annahme war, dass eine Krankheit, die einen über lange Zeit stark belastet, für die es nach wie vor keine ursächliche Therapien gibt, für die man sich immer wieder rechtfertigen und erklären muss und von der man nicht weiss, wie lange sie noch anhält und ob man von ihr jemals wieder geheilt wird, Spuren am Menschen hinterlässt. Spuren im Gesichtsausdruck, in der Körperhaltung. Somit bestand meine Arbeit als Fotograf darin, diese Spuren, manchmal ganz kleine, aufzuzeigen und festzuhalten.

Wie geht es mit dem Projekt weiter?

Momentan plane ich, rund 80 Long-Covid-Betroffene zu fotografieren und ihre Erlebnisse schriftlich festzuhalten. Die Bilder und Texte sollen in einem Buch veröffentlicht werden. Falls die Corona-Fallzahlen im Herbst 2022 wieder ansteigen, könnte dieses Buch einen Beitrag zu einer Diskussion leisten, die uns dann alle wieder beschäftigen wird. Mein Anspruch an dieses Buch ist, dass es ein fotografisches Zeitdokument eines wichtigen Aspektes der Pandemie in der Schweiz darstellt. Sobald die Finanzierung steht, geht die Arbeit los.